Vor 45 Jahren, am 5. Juli 1966 schlug der Politische Beratende Ausschuss der Staaten des Warschauer Vertrages vor, eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa abzuhalten. Diese Konferenz sollte „die Prinzipien der Beziehungen zwischen den Staaten Europas in einer gemeinsamen Deklaration formulieren und den Weg zu Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit … öffnen“. Dadurch sollten die Staaten der beiden grundverschiedenen Gesellschaftssysteme und Militärkoalitionen künftig friedlich miteinander leben und auf dieser Grundlage zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeiten könnten. Auch wenn allen Beteiligten dieser historische Vergleich damals eher fernlag – es ging ähnlich wie nach den Völkerschlachten bei Leipzig und Waterloo und auf dem Wiener Kongress um die Regelung und Anerkennung der politischen und territorialen Ergebnisse eines großen Krieges in Europa. Jeder andere, auf militärische Gewalt setzende Politikansatz war selbstmörderisch geworden.
In der NATO war es vor allem die BRD und die neue Ostpolitik der SPD-geführten Regierung der BRD, die die vom Warschauer Vertrag initiierte Idee einer KSZE aufgriff. Dies entsprach der von Willy Brand und Egon Bahr initiierten Politik, dass die Voraussetzung für eine Änderung des politischen status-quo dessen Anerkennung sein müsse. In einem Punkt blieben sich stets alle NATO-Staaten einig – den politischen und möglichst auch den territorialen status-quo zu ändern. Mit und ohne KSZE.
In den Folgejahren brachten die NATO-Staaten eigene Forderungen und Vorschläge in die Verhandlungen für ein gesamteuropäisches Dokument ein. Am Ende reichte geografische Bereich „Europa“ unter Einschluss der USA und Kanadas sozusagen von Vancouver bis Wladiwostok und von Spitzbergen und Grönland bis an die Südhänge des Pamir-Gebirges. Bis heute umfasst dieser riesige geografische Raum die alten und neuen Staaten, die in der „europäischen“ Sicherheit und Zusammenarbeit mitreden wollen. Für die künftigen Verhandlungen wurden damals die Themenbereiche der Sicherheit in Europa (der sog. Korb 1), die wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit (der sog. Korb 2) und die Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen (der sog. Korb 3) vereinbart.
Bevor dieser umfangreiche Themenkatalog angegangen werden konnte, mussten jedoch einige grundsätzliche, speziell die BRD betreffende Fragen, gesondert geregelt werden. Das betraf ihre Beziehungen zur UdSSR, der Volksrepublik Polen, der CSSR und zur DDR. Das geschah in den Verträgen von Moskau, Warschau, Prag und dem Grundlagenvertrag mit der DDR. Bezüglich Berlins wurden einige, wenngleich bei weitem nicht alle offenen Fragen zwischen den vier Hauptsiegermächten des 2. Weltkrieges, UdSSR, USA, Großbritannien und Frankreich, im sogenannten „Vierseitigen Abkommen“ geregelt. Viele praktische Dinge wurden in Folge diese Verträge möglich. Für die vier Hauptsiegermächte war es entscheidend, sich gegenseitig ihrer nicht genau definierten „Rechte in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“ erneut zu versichern. Auch aus Sicht der DDR-Führung waren diese Abkommen ein Friedenswerk. Vieles an Zusammenarbeit, das bis dahin unmöglich war, wurde nun machbar.
An den im „Vierseitigen Abkommen“ schriftlich fixierten Status der Sowjetunion (und der drei westlichen Hauptsiegermächte) als „gesamtdeutsche Besatzungsmacht mit besonderen Rechten“ wurden seinerzeit kaum Gedanken verschwendet. Obwohl schon zu dieser Zeit verantwortungsbewusste DDR-Vertretern ein gewisses Grummeln im Bauch verspürten. Besatzungsmacht und Verbündeter – das waren zwei Statusbegriffe, die nicht vereinbar waren und es auch blieben. Im politischen Kern stand insbesondere das „Vierseitige Abkommen“ zu Berlin im Widerspruch zu den Freundschafts- und Bündnisverträgen zwischen der DDR und der Sowjetunion. Aber was tut man nicht alles für den Frieden ……. Denn „damals“ waren die Führungen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten im Warschauer Vertrag noch willens und bereit ihre staatliche Existenz und ihr Gesellschaftssystem zu schützen und zu verteidigen.
Nachdem die BRD die Grenzen der UdSSR, der VR Polen, der CSSR anerkannt hatte und man für die weiteren Beziehungen zwischen DDR und BRD ausreichend tragfähige Formulierungen gefunden hatte, stand der tatsächlichen Einberufung der KSZE nichts mehr im Wege. Im Moskauer Vertrag hatte die BRD „eigentlich“ auch die Staatsgrenze zwischen DDR und BRD anerkannt. Allerdings nur eigentlich. Einseitig erklärte die Bundesregierung bei Vertragsunterzeichnung, dass es ihr Ziel bleibe, darauf hinzuwirken, dass das „deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiederlange“. Die Grenze zwischen DDR und BRD blieb so aus bundesdeutscher Sicht eine Grenze 2. Ranges – also ein Provisorium. Aus der Moskauer Großmannssicht „kein Problem“; diese Grenze war schließlich die Frontlinie an der die GSSD stand, um die sowjetischen Ansprüche in ihrem Vorfeld zu sichern.
Nach weiteren Jahren harter Arbeit der diplomatischen Delegationen in Genf unterschrieben dann im Sommer 1975 die Staats- und Regierungschefs aller damals 35 Teilnehmerstaaten in der finnischen Hauptstadt die „Schlussakte von Helsinki“.
Der Prinzipienkatalog von „Korb 1“ der Schlussakte folgte dem Ansatz des Warschauer Vertrages indem er die Grundsätze der souveränen Gleichheit und der Achtung der souveränen Rechte aller Staaten, den Verzicht auf die Androhung und Anwendung jeder Art von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität an seinen Anfang stellte. Sie waren Herz und Blut der Sicherheit für die Staaten Europas.
Ausgangpunkt der KSZE war auch für die NATO-Staaten das gemeinsame Interesse der Sicherheit und des Überlebens im 1. Kalten Krieg. Das Risiko eines atomaren Untergangs teilten alle Staaten. Sie tun dies bis heute.
Der bis 1991 andauernde Prozess der KSZE war ein nützliches Instrument zur Gestaltung der europäischen Staatenbeziehungen. Sie blieben bis zum Schluss unterhalb der Schwelle gegenseitiger Vernichtung. Und das trotz des Umstandes, dass es in einigen Ländern am Ende ihres politischen Untergangs ziemlich blutig wurde.
Trotz dieser gemeinsamen Überlebensinteressen bestanden die gegeneinander gerichteten Interessen und Ziele beider Lager weiter. Der strategische Vordenker der SPD-Ostpolitik, Egon Bahr, stellte dazu fest, dass der Kalte Krieg, „der immer noch Krieg war“, im Bann eines heißen Krieges weiter gedieh. Die Strategien der von Kennedy entwickelten US-Politik und die Ostpolitik der BRD (von SPD und CDU) verglich Bahr 1996 mit „eineiigen Zwillingen des Kalten Krieges“. Die Mittel und Methoden, die heute als hybride Kriegführung bezeichnet werden, wurden nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki seitens der US-Koalition massiv ausgebaut. Letztlich nutzte die NATO den sogenannten Korb 3 der Schlussakte als Teil ihrer Dienstvorschrift für hybride Kriegführung. Die Schlussphase des 1. Kalten Krieges wurde eben auch die Zeit des ersten globalen Hybridkrieges. Die wirklichen Entscheider in den USA und den anderen NATO-Staaten haben niemals den wichtigsten Grundsatz der KSZE akzeptiert – den der Gleichheit und Souveränität aller Staaten.
Die Schlussakte von Helsinki und der danach eingeleitete sogenannte KSZE-Prozess waren ungeachtet aller Grenzen und politischen Klippen eine schwer erarbeitete Richtschnur für ihre Beziehungen durch die „europäischen“ Staaten. So wurden sie auch von den Staaten des Warschauer Vertrages immer gesehen. Die Kompromisse, die alle Staaten auf dem Weg zur Schlussakte aushandelten, erschienen ihnen damals als ausgewogen und nützlich. Jedem Politiker ist dabei seit jeher klar, dass Kompromisse im praktischen Leben aber auch ständig verteidigt werden müssen. Schlussakte und KSZE waren politische Instrumente und nicht Selbstzweck in den Staatenbeziehungen. Sie ähnelten einem Eheversprechen von Partnern in einer Zweckehe. Das kann gut gehen, wenn alle Beteiligten dies wirklich wollen und nicht irgendwelchen Verlockungen erliegen. Ein Partner, ausgerechnet der Initiator dieser Zweckehe, erwies sich dem gemeinsamen Zusammenleben als nicht gewachsen. Dieser Partner, die Sowjetunion, agierte im Folgejahrzehnt nach innen und außen so desorientiert, dass er offenen Auges in seinen Untergang lief und dabei auch seine Kinder mit in den Tod riss. Kriminologen nennen sowas „erweiterten Suizid“. Der KSZE ist diese Entwicklung allerdings nicht zuzuschieben.
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre dümpelte der KSZE-Prozess so dahin. Das erste Folgetreffen in Belgrad wurde vor allem durch die ideologisierte Politik der Carter-Administration ein Fehlschlag. Eine materielle Basis für die europäische Sicherheit und Zusammenarbeit, wie sie im „Korb 2“ konzipiert war, kam vor allem auf Betreiben von USA und EG nie zustande. Dieser Teil der Schlussakte blieb immer eine Totgeburt. Den bilateralen Handel hätte es in Europa auch ohne die KSZE-Schlussakte gegeben. Große, gesamteuropäische Projekte, wie sie z.B. die Staaten des RGW im Energiebereich wiederholt vorschlugen, kamen nie zustande.
Der zunehmende Zerfall im Innern der UdSSR gerade in den 1980er Jahren lähmte zunehmend auch ihre auswärtige Politik. Gerade in dieser Zeit zogen die politischen Führungen der USA und ihrer Verbündeten die Initiative an sich und schlugen einen selbstbewussten und offensiven politischen Kurs zur Besiegelung des Schicksals ihrer Gegner im 1. Kalten Krieg ein. Die Reagan-Administration, auf die die Herren in Kreml und ZK irgendwelche Hoffnungen gesetzt hatten, verkündete den Endkampf – das Armageddon zwischen Gut und Böse.
In dieser von Ungewissheiten und Risiken geprägten Situation stand im Herbst 1980 erneut ein Folgetreffen der KSZE, diesmal in Madrid, auf der Tagesordnung der Ost-West-Diplomatie. Die Warschauer Vertrags-Staaten initiieren einen neuen Anlauf zur Entwicklung von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sie schlugen eine Konferenz zur Abrüstung in Europa vor. Diese Konferenz sollte das Hauptergebnis des zweiten KSZE-Folgetreffens in Madrid sein.
Der von der Volksrepublik Polen eingebrachte Vorschlag stellte von Anfang an die Festigung der politischen Zusammenarbeit und des gegenseitigen Respekts der Sicherheitsinteressen der KSZE-Staaten in den Mittelpunkt. Anders gesagt war er niemals nur auf numerische Waffenbegrenzungen fokussiert, ohne dieses Element völlig auszuschließen. Die Verhinderung eines Krieges und die Festigung von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wurden immer und vor allem als politische Aufgabe betrachtet.
Frankreich präsentierte das Gegenstück der NATO-Staaten: eine „Konferenz über Abrüstung“. Schon der Name der Konferenz im französischen Vorschlag war jedoch von Anfang an vollkommen irreführend; er segelte sozusagen unter falscher Flagge. Der Vorschlag der NATO dampfte das Thema „Abrüstung“ lediglich auf einen Satz sogenannter vertrauensbildender Maßnahmen ein. Zu mehr waren die NATO-Staaten nicht bereit. Eine größere Pervertierung des Begriffs „Abrüstung“ war nur schwer vorstellbar.
Auch in Madrid gelang es den USA, den sogenannten Korb 2, der die Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa voranbringen sollte, vollkommen zu marginalisieren.
Ende der 1980er Jahre wurde in Wien doch noch eine „Europäischen Abrüstungskonferenz (KSE)“ durchgeführt. Ihre Vereinbarungen sollten Teile der konventionellen Rüstungen der Landstreitkräfte jener KSZE-Staaten, die der NATO und dem Warschauer Vertrag angehörten, nach Umfang und Stationierungsregion begrenzen. Es passiert allerdings nicht so oft in der Geschichte, dass zum Abschluss der KSE-Verhandlungen ein Vertrag zwischen Mitgliedern von Militärallianzen unterzeichnet wird, von denen eine dieser Allianzen gar nicht mehr existiert. Da der KSE-Vertrag von Einzelstaaten unterzeichnet wurde, hat sozusagen der Warschauer Vertrag noch aus dem Grab heraus mit toter Hand seine Unterschrift geleistet. Makabrer geht es kaum. Dieser Teil europäischer Sicherheit und Rüstungskontrolle hatte in Madrid mies begonnen und war in Wien elend gescheitert. Nach dem Sieg der USA und der NATO im 1. Kalten Krieg war das aber auch schon mehr oder weniger egal.
Die politischen Rahmenbedingungen waren ab 1989-90 nur noch als chaotisch zu bezeichnen. Jegliche Berechenbarkeit ging verloren. In dieser Zeit herrschte auf Seiten der Sieger wie der Besiegten eine ähnliche Stimmung wie auch zum Ende der zwei vorangegangenen großen Kriege in Europa und der Welt. Das Ende der DDR und der NVA war zu dieser Zeit schon lange zwischen Moskau, Washington und Bonn besiegelt worden. Genau das hatten der letzte Generalsekretär der KPdSU und der damalige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Helmut Kohl, während ihres Treffens im Juni 1989 in Bonn verabredet.
Das alte, fein austarierte „europäische Gleichgewicht“ war mit dem Ende der DDR und dem des Warschauer Vertrages verschwunden. Die Waage hatte ihre Arme verloren. Die KSZE war gestorben. Der Untergang der UdSSR, ihrer Koalition zusammen mit ihrem gesamten Gesellschaftssystem am Ende des 1.Kalten Krieges bedeutete auch das völlige Scheitern ihres Konzeptes für die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Deren Grundidee – soweit es jedenfalls die Konzepte des Warschauer Vertrages betraf – bestand gerade in der völkerrechtlichen Bestätigung der politischen und territorialen Ergebnisse des 2. Weltkrieges und auf dieser Grundlage der Entwicklung einer vielfältigen und gleichberechtigten Zusammenarbeit der europäischen Staaten basierend auf gegenseitig vereinbarten völkerrechtlichen Prinzipien. Als nach dem Zerfall der UdSSR und ihrer Koalition die Achtung von Gleichheit und Gewaltverzicht fielen, fielen auch eine ganze Serie von Staatsgrenzen im KSZE-Raum Europas und Asiens. Besser gesagt: sie fallen immer noch und ein Ende ist bisher zumindest nicht abzusehen. Bis heute besteht diese Missachtung grundlegender Prinzipien von UN-Charta und KSZE-Schlussakte fort. Es geht halt nicht nur um eine Konkurrenz gesellschaftlicher Systeme, sondern um das immer wieder zu Kriegen führende Streben großer Staaten, sich auf Kosten kleinerer oder schwächerer zu bereichern.
Der grundlegende, auf Gleichberechtigung aller Teilnehmerstaaten basierende Ansatz der KSZE fand damals seinen formalen Ausdruck im Konsensprinzip. Gerade dieser, von den großen und einflussreichsten Staaten mitunter bedauerte Grundsatz der KSZE entsprach der Idee von Gleichheit und Gleichberechtigung aller Staaten, großer wie kleiner, in den europäischen Beziehungen. Jede Aktion der KSZE, selbst das Stattfinden ihrer Veranstaltungen stand unter der Voraussetzung, dass alle Mitgliedsstaaten ihre Interessen zumindest nicht durch Handlungen anderer Staaten beschädigt sahen. Trotz des defacto Vetorechts für alle Mitgliedstaaten (Konsensprinzip) verhinderte der Gleichheitsgrundsatz in der Praxis der alten KSZE keinesfalls die Vereinbarung sehr praktischer Aktionen. Gleichheit für alle Staaten ist nicht zwangsläufig lähmend; sie beugt jedoch der Dominanz Weniger vor. Wenn schon etwas durch Konsens gelähmt wird, dann ist es das Aufzwingen der Interessen der Großen und Starken auf kleinere und schwächere Staaten. Der Gleichheitsgrundsatz ist vielleicht das Kostbarste Element in den Staatenbeziehungen ebenso wie zwischen zwei Menschen.
Dem schrittweisen Umbau der europäischen und der globalen Sicherheitsarchitektur und des Völkerrechts unter offener und unverhohlener Dominanz des Rechtes des Stärkeren und der Missachtung der Souveränität und Gleichheit der Staaten stand nach dem Untergang der UdSSR und ihrer Koalition nichts mehr im Wege.
Die Sieger des 1. Kalten Krieges etablierten in den 1990er Jahren ihre neue „europäische und globale Friedensordnung“ zur formellen Absicherung ihrer eigenen weltweiten oder regionalen Dominanz.
Die KSZE war überflüssig geworden. Die territorialen und vor allem die politischen Ergebnisse des 2. Weltkrieges waren in der Endphase des 1. Kalten Krieges durch die USA und deren Koalition zu Lasten der Sowjetunion und Russlands rückgängig gemacht worden. Die Vereinbarungen der Hauptmächte der Antihitlerkoalition, die in Teheran, Jalta und Potsdam getroffen wurden, hatten sich politisch erledigt. Damit war die ursprüngliche Geschäftsgrundlage der KSZE weggefallen.
Aus Sicht der Sieger im 1. Kalten Krieg sollen nun NATO und EU als Rahmen für die europäische Sicherheit dienen. Die „Anderen“, die früher zu Warschauer Vertrag und RGW gehörten, sollen „einbezogen“ werden. Natürlich nach gewissen Transformationszeiten. Der Geruch der alten Gegner musste erst ausgelüftet werden. Damit war von Anfang an klar, dass es nie um Gleichberechtigung ging, sondern um Einbeziehung und Unterwerfung unter vorgegebene Regeln. Klagen der „Einbezogenen“ wegen verschiedener Ansichten, zeigen bis heute, dass sie sich das Einbeziehen etwas anders vorgestellt hatten. Nur das ist ja ihr Problem.
Mit dem Übergang zu einer institutionalisierten und festen Organisationsstruktur, die in der Gründung der OSZE ihren Ausdruck fand, wurde Anfang der 1990er Jahre die ursprüngliche KSZE begraben. Niemand sollte sich täuschen: mit dem Ende des 1. Kalten Krieges endete auch der zutiefst gleichberechtigte Charakter der KSZE. Die neue OSZE und ihre Parlamentarische Versammlung waren bereits ein untergeordneter Teil der neuen, von den Siegermächten des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert etablierten Nachkriegsordnung und damit Teil einer grundsätzlich nicht-gleichberechtigten Struktur. In ihrem Wesen hat sie nichts mehr mit der KSZE aus den 1970er und 1980er Jahren zu tun. Sie war halt da und wird nun durch die Zeit mitgeschleppt. Wer jedoch seine Sicherheit an die OSZE knüpft, ist verloren. Das ist niemandem zu raten.
Übrig blieb nach 1990 die Hülle einstiger Staatenbeziehungen für Europa und Nordamerika. Sie erbt im günstigsten Fall das hohe Ansehen der Vorgängerin als Startkapital. Die OSZE profitiert nach wie vor – und leider nur in Einzelfällen auch berechtigt – vom guten Ruf ihrer Vorgängerstruktur, der KSZE und den damit verbundenen, sehr zählebigen Illusionen bezüglich ihrer moralischen Autorität.
45 Jahre sind seit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki vergangen. Nicht alles müsste neu erfunden werden, um der Sicherheit und Zusammenarbeit von Mittelasien bis zur nordamerikanischen Pazifikküste neue Impulse zu verleihen. Die Vordenker der KSZE dachten mitten im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts das sogenannte Undenkbare. Nach jahrelangen Verhandlungen wurden diese Gedanken von den Oberhäuptern der 35 Gründungsstaaten in Helsinki unterzeichnet. Das nährt zumindest eine gewisse Hoffnung, dass irgendwann in der Zukunft Ähnliches erneut möglich sein könnte. Immerhin stehen in den Akten der OSZE noch die in Helsinki vereinbarten Prinzipien des Teil 1 der Schlussakte, von denen sich die Mitgliedsstaaten in ihren Beziehungen leiten lassen sollen. Dieses Ergebnis aus der Ursprungszeit der KSZE blieb bestehen und kann – politischen Willen vorausgesetzt – jederzeit auch heute zur Entwicklung friedlicher und gegenseitig vorteilhafter Beziehungen genutzt werden. Wie gesagt: kann, wenn die Beteiligten es denn tatsächlich wollen.
Das alte Hauptproblem für die europäische Sicherheit ist nach wie vor offen – die Gestaltung eines friedlichen und möglichst ersprießlichen Zusammenlebens mit Russland. Und so wurde auch immer klarer, dass die Besinnung auf die Ursprungsidee der KSZE nötig ist. Es geht um die politischen Grundprinzipien der Staatenbeziehungen. Natürlich wurden sie in UNO-Charta und KSZE-Schlussakte schon aufgeschrieben. Dennoch ist es immer wieder nötig, sie zu erneuern und wo nötig neu zu ordnen. Oftmals geschieht dies leider erst dann, wenn die betroffenen Völker und Staaten durch die Hölle gegangen oder ihr mit knapper Not entgangen waren. Im Atomzeitalter sind derartige Verhaltensweisen allerdings lebensgefährlich. Die heutigen Staatenlenker täten gut daran, sich an die Weisheit ihrer Vorfahren zu erinnern.
November 2020 Lutz Vogt